Imaginal Fiction und Mythopoesie

Mythopoesie

Das Wort setzt sich aus zwei griechischen Wurzeln zusammen. mýthos meint nicht einfach eine erfundene Geschichte, sondern eine sinntragende Erzählung, eine Form, in der Weltdeutung gebündelt wird. poieîn heißt machen, hervorbringen, erschaffen. Mythopoesie ist wörtlich das Mythos-Hervorbringen.

Damit ist keine nostalgische Rückkehr zu alten Göttergeschichten gemeint. Mythopoesie ist die Kunst, Sinn-Formen zu bauen, die tiefer greifen als Erklärung. Eine Mythopoesie kann modern sein, nüchtern, sogar skeptisch. Sie bleibt Mythopoesie, sobald eine Geschichte mehr tut als erzählen. Sobald sie eine innere Architektur stiftet, in der Menschen sich anders zueinander, zur Zeit, zur Welt verhalten können.

Mythopoesie ist dabei weniger eine Gattung als eine Funktion. Sie setzt nicht voraus, dass ein geschlossenes System entsteht. Sie kann auch in Fragmenten auftauchen, in Bildern, in Szenen, in einem einzigen Satz, der länger nachklingt als die Seite.

Imaginal Fiction

Imaginal Fiction ist ebenfalls weniger Etikett als Arbeitsweise. Sie nimmt die Welt ernst, wie sie ist, und nimmt zugleich ernst, dass die Welt mehr Schichten hat, als der Alltag gewöhnlich abruft. Sie arbeitet mit dem Imaginalen als Wahrnehmungsraum, nicht als Flucht.

Der Kern ist einfach. Imaginal Fiction erzählt so, dass die Realität nicht „magisch“ wird, sondern durchlässiger. Das Unauffällige wird bedeutsam, ohne dass die Gesetze der Welt aufgehoben werden. Die Erfahrung bekommt Tiefe, ohne dass sie als „Botschaft“ erklärt werden muss.

Darum sind ihre Mittel oft leise. Verdichtung, Rhythmus, Resonanzfiguren, wiederkehrende Motive, Schwellenmomente. Nicht weil die Geschichte geheimnisvoll sein will, sondern weil das Wirkliche selbst nicht vollständig in Prosa aufgeht.

Gegenüberstellung

Mythopoesie fragt im Hintergrund: Welche Sinnform entsteht hier. Welche Welt wird durch diese Erzählung bewohnbar. Welche Ordnung von Relevanz zeigt sich.

Imaginal Fiction fragt im Hintergrund: Wie lässt sich das Wirkliche so erzählen, dass seine verborgenen Schichten sichtbar werden. Wie kann Sprache nicht nur beschreiben, sondern Wahrnehmung verfeinern.

Mythopoesie neigt dazu, groß zu werden. Sie liebt die langen Linien, die Tiefenzeit, die Gestalten, die mehr sind als Psychologie. Imaginal Fiction neigt dazu, nah zu bleiben. Sie liebt die Gegenwart, die konkrete Szene, den genauen Ton, das, was man gerade noch übersehen hätte.

Und doch liegen beide nahe beieinander. Denn Mythopoesie braucht nicht zwingend das Monumentale. Eine moderne Mythopoesie kann aus Alltag entstehen, aus Beziehung, aus einem Blick, der die Welt nicht reduziert. Imaginal Fiction kann genau dort mythisch werden, wo sie die Welt in ihrer Tiefe ernst nimmt.

Fazit

Imaginal Fiction kann als Mythopoesie gelten, weil sie eine mythopoetische Arbeit leistet, ohne sich als Mythos-System auszugeben.

Sie baut keine neue Religion. Sie führt keine Götter ein, an die man glauben müsste. Sie schafft keine Allegorien, die man entschlüsseln soll. Sie schafft auch kein neues Weltbild. Sie macht etwas Unaufgeregteres. Sie setzt Bilder so, dass sie tragfähig werden. Sie lässt Figuren in Erfahrungsräume geraten, in denen die üblichen Kategorien nicht reichen. Sie schreibt Schwellen, an denen ein Mensch nicht „mehr weiß“, sondern anders sieht. Dadurch entsteht eine andere Weltbeziehung. Für die Figur, für die Lesenden. Und dadurch kann sich vielleicht ein neues Weltbild ankündigen.

Wenn dabei ein Mythos entsteht, dann als Ergebnis einer Genauigkeit. Als Nebenwirkung einer Sprache, die das Wirkliche nicht erklärt, sondern in eine Form bringt, in der es antworten kann.

Das ist die Stelle, an der Mythopoesie und Imaginal Fiction sich berühren. Mythopoesie als Sinn-Hervorbringen. Imaginal Fiction als Wirklichkeits-Vertiefung. Zwei Namen für eine ähnliche Bewegung, mit unterschiedlichem Schwerpunkt.

Vielleicht reicht als letzte Unterscheidung eine kleine Frage, die offen bleibt:
Was bleibt von einem Text, wenn ich das Buch schließe?

Wenn ein Text nur unterhält, schließt er sich mit.
Manchmal öffnet sich mit dem Schließen etwas. Das kann Mythopoesie sein.
Ich gehe danach ein wenig anders durch dieselbe Welt. Nehme anderes wahr, oder dasselbe auf neue Weise.

– Lucas Martainn

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Die Würde der ungeteilten Aufmerksamkeit