Wie schreibe ich eigentlich?

Das fragt man nicht mich. Das frage ich mich.

Ich denke darüber nach, wie sich etwas in mir entfaltet. Das erste Bild, das mir bei dieser Frage in den Sinn kommt, ist: von unten nach oben. Aus dem Boden. Und von der Mitte in die Peripherie.

Die Mitte ist eine Schwerpunktbildung durch Resonanz im Zusammenspiel der Kräfte. Dabei ist „Mitte” eher ein Prinzip, etwas Natürliches, das uns eingeschrieben ist, als ein Ort. Ein Fluss hat auch eine Mitte: Er fließt nach unten. Das ist sein Prinzip. Und er trifft auf Widerstand (Einschränkungen). So erhält er seine Form und formt zugleich. So entfalten sich zwei Potenziale gleichzeitig: das des Flusses und das der Landschaft. Die natürlich in keiner Weise voneinander getrennt sind.

Formender Fluss & tragende Struktur

Auf diese Weise kann ich den kreativen Fluss aus einer Quelle verstehen. Im Bild des Flusses ist zwar eine Top-down-Bewegung enthalten. Da sehen wir schon den Widerspruch zu meinem Empfinden, dass sich die Dinge bei mir eher von unten nach oben entfalten. Im Fluss-Bild ist jedoch keine Zwei-Welten-Top-down-Bewegung enthalten – etwa Gott und Schöpfung –, solange man es nicht als Metapher sieht. (Imaginal Fiction arbeitet nicht mit Metaphern, genau aus dem Grund, dass sie sich nicht in der Zwei-Welten-Mythologie entfaltet.)
Es ist eine Beziehung von differenzierbarem Nicht-Getrenntem. Obertöne formen einen Klang – und damit die Gestalt des Tons – ebenso wie die Saite die Obertöne hervorbringt. Material und Klang sind untrennbar miteinander verbunden. Material und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden. Der Mensch und seine Geschichten sind untrennbar miteinander verbunden.

Beim Schreiben entsteht dieser Fluss durch den Fokus. Der Fokus entsteht durch die Beziehung. Die Beziehung zwischen mir und der Grundfrage (oder den Grundfragen), die dem Schreiben zugrunde liegt und vermutlich als Attraktor und auch als Einschränkung gesehen werden kann. Die Beziehung der Figuren zur Landschaft und der Landschaft zu den Figuren. Die Beziehungen der Figuren zueinander. Die Beziehungen der Landschaften. Dabei sind „Figuren” und „Landschaften” wiederum nur Kürzel für unendlich komplexe Beziehungsgefüge oder Felder. Der Fluss ist die Richtung, in der ein Feld seine Muster in wechselseitigen Interaktionen mit „anderen“ Feldern durch Resonanz fokussiert und dadurch Erscheinungen bündelt und hervortreten lässt. So wie die Eiche nicht einfach aus der Eichel entsteht, sondern aus dem komplexen Zusammenspiel von DNA, Licht, Temperatur, Wasser, Bodenbeschaffenheit und Zeit in der richtigen Kombination von Förderung und Einschränkung.

Ähnlich entsteht ein Text aus einem noch komplexeren Zusammenspiel, wobei Potenzialentfaltungen und Einschränkungen (durch die Sprache, ein Genre, die persönliche ethische Haltung, das persönliche Talent oder auch die Orientierung am Markt) dieses Zusammenspiel kanalisieren.

Der Fluss entsteht durch das Zentrieren, die leise Fokussierung von Feldern (Antwortfeldern) um einen Schwerpunkt, der erst durch Beziehungen entsteht. Die Felder richten sich durch Resonanz aus. Es entsteht nicht nur eine Mitte, sondern auch eine Richtung. Ich ahne dann, dass das Schreiben naht. Aber ich bleibe noch im Nicht-Schreiben. Denn ich muss auch noch ahnen, dass das Schreiben trägt. Das ist der zweite wichtige Aspekt.

Aus dem Zusammenwirken vieler Teile entsteht eine neue Ordnung – und daraus oder damit auch Sprache, eine neue Sprache. Ich spüre diese dynamische Struktur, wenn aus vielen kleinen Antworten plötzlich etwas Tragendes wird. Wenn sich das Mind-Wandering bündelt. Ein Muster. Eine tragende Struktur. Eine neue Gestalt, ein neues Gesamtes.

Es ist das Stabilwerden des Neuen, wenn Resonanzen und Einschränkungen so zusammenspielen, dass eine Gestalt tragfähig und belastbar wird. Denn erst daraus entsteht Kraft und Bewegung – auch die Schreib-Bewegung.

Imaginal Fiction: Ein Gespräch der Kräfte

Es genügt, hinzuhören und da zu sein, wo sich Kräfte verabreden. Die Krone eines Baums ist die Antwort auf Wind, Licht und Boden. Eine spezifische Form der Sprache entsteht direkt aus dem Gespräch zweier Figuren heraus, die durch das Gespräch ihrerseits differenziert werden. Ein Dünenkamm entsteht durch Windrichtung, Sandbeschaffenheit, Feuchtigkeit und Strandneigung – jeder Aspekt für sich wieder ein Zusammenspiel verschiedener Kräfte. Die Musik bei einem Live-Konzert: Timing, Eigenheiten der Instrumente und Musiker und das Hinhören lassen etwas entstehen, das keiner allein spielt und das alle tragen.

Schreiben geschieht in Spiralform. Es ist ein Bündeln und Neu-Stabilisieren in wechselndem Rhythmus. Mal führt der Schwerpunkt, mal trägt das Muster.

Und immer wieder das feine Loslassen und Nachgeben, das dem Nächsten Platz macht.

Ich denke, also schreibe ich?
Nein. Aber ich denke, das ist meine Art zu schreiben.
In Imaginal Fiction verdichtet sich dieser emanativ-emergente Schreibmodus zur Poetik der Beziehung: Figuren, Landschaften und Dinge rufen einander in Resonanz, bis aus verstreuten Antworten ein tragfähiges Muster aufleuchtet. Die Pionéa-Trilogie zum Beispiel erzählt das Stabilwerden des Neuen aus der Verdichtung vieler Relationen. Ich sehe in Imaginal Fiction überall Spuren dieses Prozesses: als Fluss- und Pendelbewegung zwischen Mitte und Peripherie, als leises Fokussieren von Antwortfeldern, bis etwas tragfähig wird.

Wo kommen alle diese Felder zusammen? Wo geschieht die Resonanz? Natürlich im Leser/in der Leserin. Wo genau? Im Herzen? Im Geist?

Im Imaginalen.

– Lucas Martainn

Weiter
Weiter

Halb voll, halb leer?