Das Wunder Geschichte

Wenn eine Geschichte uns anspricht, geschieht etwas Wunderbares.

Es ist, als würden sich zwei Personen begegnen. Ja, die Geschichte ist eine Person, sie hat ein Gesicht. Deshalb kann sie zu uns sprechen, uns ansprechen.

Wenn wir also eine dieser Geschichten hören, werden wir ganz still, weil wir zu innigen Zeugen werden – zu innigen, intimen Zeugen, nicht zu distanzierten –, die bezeugen, wie es eine Übereinstimmung gibt. Eine Übereinstimmung der Geschichte, die von außen kommt, und eines Keims derselben Geschichte, der in uns schlummert und durch diese Geschichte geweckt wird. Der Keim empfängt eine Vision davon, was er werden kann, wenn er auf die Geschichte von außen trifft.

Weil dieser Keim in uns existiert, kann uns die Geschichte ansprechen. Hier entsteht die Resonanz.

Aber es ist noch mehr als das.

Es ist noch mehr als das.

Denn der Keim und der Baum (die erzählte Geschichte) sind sozusagen ein und dasselbe, beide in die Zeitlosigkeit eingebettet und unterschiedlich in der Zeit manifestiert. Die beiden Geschichten, die äußere und die innere, bilden eine triadische Einheit: das Verwirklichte, das Werden und das Reich jenseits der Zeit. Und sie überbrücken so nebenbei schon mal die scheinbare Trennung von innen und außen.

Jetzt wird es aber noch faszinierender.

Die erzählte Geschichte ist die verwirklichte Geschichte. Da sie bereits verwirklicht ist, gehört sie zur Vergangenheit, richtig? Für die innere Geschichte, den Keim, ist sie die eine Hälfte einer Welt, in der er wachsen kann (die andere Hälfte ist die alltägliche Lebenswelt). Sie ist also eine Form der Gegenwart, die gegenwärtige imaginale Landschaft, die Lebenswelt der Geschichten. Für die innere Geschichte ist die erzählte Geschichte aber auch eine Vision. Sie ist somit die Zukunft, denn darauf kann die innere Geschichte – und damit der Mensch – hinwachsen.

Die erzählte Geschichte ist all das. Für den Keim kann sie all das sein, weil beide in der Zeitlosigkeit verankert sind. Und damit kann sie all das für uns sein. Wenn wir dafür empfänglich sind. Wenn der Zugang nicht verschlossen, verschüttet oder verloren ist.

Denn offensichtlich bedeutet all dies, dass ich nicht einfach über irgendeine Geschichte spreche. Geschichten sind Bilder – verwirklichte und potenzielle –, und diese Bilder sind wir selbst. Sie sind aber auch Kräfte, die uns formen.

Es ist ein Aspekt des Menschseins, dass wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das Zeitliche und das Zeitfreie, das Verwirklichte und das Potenzielle sowie das Innen und das Außen vereinen und verkörpern. (Hut ab, Mensch!) Diesen Aspekt würde ich die imaginale Qualität nennen.

Und nirgendwo wird dies meiner Meinung nach deutlicher als in unseren Begegnungen mit Geschichten.

– Lucas Martainn

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Halb voll, halb leer?