Halb voll, halb leer?

Nicht alles ist eine Geschichte, wie in gewissen Kreisen behauptet wird.

Ich möchte es ohnehin anders betonen. Nicht alles ist eine Geschichte. Wenn wir jedoch darüber reden, bildet sich sofort eine Geschichte.

Stellen wir uns ein Bild vor ... Moment.

Ich kann das Bild nicht beschreiben, ohne bereits eine Geschichte zu implizieren. Also stellen wir uns zwei Bilder vor.

Bild 1: Ein Tisch. Ein halb volles Glas darauf.

Bild 2: Ein Tisch. Ein halb leeres Glas darauf.

Die Bilder sind exakt dieselben.

Doch das Glas und sein Inhalt haben eine Geschichte. Doch welche? Mit meiner Beschreibung des Bildes impliziere ich eine davon. Ist es halb voll oder halb leer? Welche Geschichte ist die richtige? Diese Frage stellen wir uns normalerweise nicht, denn wir kommen gar nicht darauf.

In der Fotografie sagt man, ein gutes Foto müsse eine Geschichte erzählen. Ich bin anderer Meinung. Ein Bild muss eine Qualität haben, aus der sich eine Geschichte entwickeln kann. Je mehr Geschichten daraus entstehen können, desto mehr spricht mich das Bild persönlich an. Der Begriff „Geschichte” ist hier aber weit gefasst. Es muss keine Sequenz mit einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss entstehen. Ich kann das Bild auch einfach auf mich wirken lassen, in unsere Begegnung versinken und ein klein wenig anders wieder daraus auftauchen.

Imaginale Bilder sind wie das Bild vom halb vollen oder halb leeren Glas. Sie enthalten viele Möglichkeiten, bzw. das Bild ist die Verbildlichung vieler Möglichkeiten, die alle real sind. Ein Krimi hat eine andere Ausgangslage (meistens einen Toten), die zwar auch viele Möglichkeiten zulässt (Wer von den Verdächtigen hat es getan?), dann aber auf eine richtige Lösung (eine einzige Realität) reduziert wird. Die Geschichte hat nur diese eine Aufgabe: zu reduzieren.

Imaginal Fiction hingegen extrahiert aus vieldimensionalen Bildern – die vielleicht, wie das Bild mit dem Glas zeigt, ganz alltäglich daherkommen – eine Geschichte. Aber sie reduziert nicht auf die eine „richtige” Lösung, ja nicht einmal zwingend auf eine Lösung. Imaginal Fiction öffnet vielmehr. Wen? Was? Natürlich die Figuren in der Geschichte, aber auch die Lesenden, wenn Resonanz entsteht. Daraus ergibt sich eine ganz andere Geschichtenstruktur als ein „Plot“.

Doch nicht nur die Erzählstruktur ist dadurch anders. Da das Ausgangsbild zur Vielschichtigkeit, Vieldimensionalität und Mehrdeutigkeit ohne Beliebigkeit einlädt, trägt auch die Geschichte ein gewisses Maß an Vielschichtigkeit, Vieldimensionalität und Mehrdeutigkeit ohne Beliebigkeit. Denn durch Imaginal Fiction wird das Bild nicht reduziert, sondern zu einem einzigartigen Zeitpunkt aus einer einzigartigen Perspektive heraus gelesen und explizit gemacht. Die anderen, nicht explizierten Geschichten sind aber trotzdem implizit vorhanden, spürbar und erahnbar und können auf eine andere Weise Resonanz auslösen.

– Lucas Martainn

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