Der Weg

Lucas Martainns Petrol Notebooks mit dem Logo der Pionéa-Trilogie

Der Weg des Schreibens, der Weg des Lesens – der Weg der Resonanz

Ich kann nicht anders, als künstliche Intelligenz (KI) als Chance zu sehen. Nicht, weil sie uns Arbeit abnimmt – oder gar Texte unter meinem Namen schreiben könnte (Sind Sie sicher, dass ich real bin?). Nicht, weil ich die Gefahren nicht sehe, wenn Menschen mit ihr interagieren. Ich sehe KI als vorläufigen (und folgerichtigen) Höhepunkts eines Irrwegs, auf dem sich der Mensch seit langer Zeit befindet. Von »Ich denke, also bin ich« zur KI führt ein zielstrebiger, geradliniger Weg (und Descartes war nicht mal der Anfang).

Ich entscheide mich, KI als Chance zu sehen, in welcher sich der Mensch besinnt. In einer Zeit, in der Rechner Geschichten schreiben, bin ich aufgefordert, Geschichten zu schreiben, die diese Rechner nicht schreiben können, mit meiner einzigartigen Stimme, auf meine einzigartige Weise. Ich weiß auch, dass ich damit der KI das Futter anbiete, mit dem sie mich eines Tages wird imitieren können. Doch das beunruhigt mich nicht. Einerseits kann ich der KI immer einen Schritt voraus sein. Andererseits berührt diese Sichtweise nur die Oberfläche, denn sie bleibt beim Produkt. Doch geht es wirklich um das Produkt? Schreibe ich, damit ich am Ende des Prozesses ein Buch in den Händen halte – oder noch besser, Sie es in den Händen halten? Nein. Ich schreibe, weil ich überall da zuhause bin, wo ich schreibe. Und ich bin gerne zuhause.

Pilgerinnen und Pilger

Ich entscheide mich wertzuschätzen, dass ich privilegiert bin, einen Weg zu gehen. Das ist das Privileg jedes Menschen, dass wir Pilgerinnen und Pilger sind. Eine schlichte Tatsache, die wir vergessen haben, und an die wir uns nun, im Licht der KI, erinnern können.

Ich meine »Pilger« nicht im religiösen Sinn. Im antiken Griechenland war ein theoros ein Zeuge des Wirklichen. Ein Mensch, der sah. Nicht oberflächlich, sondern teilnehmend, partizipierend. Denn theoria bedeutete etwas Lebendiges. Etwas Erfahrbares. Etwas, das nicht vom Leben getrennt war, sondern tief darin verwurzelt. Eine Art zu schauen, ein kontemplatives, dialogisierendes Schauen. Eine Art zu leben.

Menschsein als Weg

Rechner können keinen Weg gehen. Und sie sind schon gar keine Pilgernde.

Sie verstehen eine Theorie, ein Bild einer Kaffeetasse oder die Odyssee als ein und dasselbe – als eine Kombination von Wahrscheinlichkeiten. Sie sehen darin keinen Sinn, keine Bedeutung, keine Relevanz, spüren keine Resonanz. Denn dazu bräuchte es einen Körper. Und sie »haben« vielleicht einen Körper im weitesten Sinn. Wir Menschen dagegen sind Körper. Er ist mehr als Fortbewegungsmittel. Das ist ein anderes Thema für ein anderes Mal, baut aber eine Brücke zu den japanischen Kultivationswegen.

Do

In der japanisches Kultur gibt es die »Wege«, Do. Shodo, der Weg des Schreibens. Budo, der Weg des Kriegers. Sado, der Weg des Tees, und so weiter. KI kann ein Aufruf sein, unseren »Do« zu finden. Unseren Weg, nicht unser Ziel. Unsere Weise, Menschsein zu kultivieren.

Ich gehe in diesem Kontext den »Weg des Imaginalen«. Und in Zusammenhang mit dem Imaginalen zeigt sich der Unterschied zu KI ganz deutlich. Nicht nur im Weg, sondern eben auch im Produkt.

Das Imaginale ist Weg

Das Imaginale unterscheidet sich von KI-generierten Produkten nicht primär durch das, was es darstellt, sondern durch das, was es ermöglicht – durch seine Herkunft, seine Weise des Entstehens und seine Wirkung auf die Wahrnehmung. Dieser Unterschied zeigt sich nicht sofort in der Oberfläche des Werkes, sondern in seiner Tiefe, seiner inneren Bewegung, seiner Beziehung zur Welt.

Lass uns das imaginale Werk und das KI-Werk einander gegenüberstellen. Denn der Kontext der KI eignet sich vorzüglich, um das Imaginale klarer herauszuarbeiten.

Das Imaginale vs. KI

Herkunft: Beziehung vs. Berechnung

Das imaginale Werk entspringt einem inneren Prozess, in dem der Mensch auf etwas antwortet, das ihn berührt hat – sei es ein Bild, eine Empfindung, ein existenzielles Thema, die Fülle des Lebens. Es ist Ausdruck einer aktiv gelebten Beziehung zwischen Welt, Körper, Erfahrung und Vorstellungskraft.

Ein KI-Werk entsteht durch Mustererkennung und statistische Rekombination bestehender Daten. Es simuliert Kreativität auf der Basis verfügbarer Information, kennt aber keine Beziehung, kein Betroffensein, keine Offenbarung, kein Ringen, nicht die stille Freude, wenn etwas gelingt.

Zeit: Gewordene Gegenwart vs. abrufbare Instantaneität

Das imaginale Werk ist durch Zeit gegangen. Es trägt die Spuren von Entwicklung, von innerem Reifen, von Verdichtung, Differenzierung und damit verbunden, Loslassen. Es hat eine eigene Zeitstruktur – nicht nur in der Erzählung, sondern in seinem Entstehen.

Das KI-Werk ist sofort da. Es kennt keine Zeit der Reifung, keinen Widerstand, keine Latenz. Und gerade deshalb fehlt ihm die Schwerkraft (und damit verbunden vielleicht die tiefe Leichtigkeit) und das Resonanzpotenzial, die ein gutes Werk auszeichnen.

Bildung: Werden des Werkes vs. Produktion des Outputs

Das imaginale Werk wird nicht gemacht, sondern wird. Es entsteht in einem komplexen, dialogischen Prozess, in dem der Mensch selbst verwandelt wird. Oft weiß die schreibende, malende, komponierende Person nicht im Voraus, was sie ausdrücken wird. Sie lauscht. Und staunt. Und hadert. Und freut sich. Und ist erfüllt.

Das KI-Werk ist Output eines Prozesses, der von Anfang an auf Lieferung ausgelegt ist. Es gibt keine Nicht-Wissens-Phase, kein Vertiefen, keine Wandlung, kein Verwerfen. Es interessiert sich nicht. Es führt nur eine Anweisung aus. Es ist nur Berechnung – präzise, beeindruckend vielleicht, strahlend, glänzend, aber ohne Tiefe des Seins, innerlich leer, ohne wirklichen Bezug zur Wirklichkeit, ohne Verwurzelung im Wirklichen und Menschlichen, ohne innere Wahrheit, ohne Erleben.

Tiefe: Erfahrene Durchdringung vs. plausible Oberfläche

Das imaginale Werk trägt eine Tiefenschicht, die nicht erklärbar ist, aber erahnbar. Es durchdringt die Repräsentation (die Geschichte, ein Bild …) mit etwas Nicht-Sichtbarem, Nicht-Programmierbarem, oft Nicht-Benennbarem. Ein guter Begriff wäre vielleicht: mit verdichtetem Leben. Imaginal Fiction zu schreiben heißt, Entbergen zu ermöglichen – etwas sichtbar werden zu lassen, weil man den Raum dafür zur Verfügung stellt, ohne es ins harte Licht zu zerren. Imaginal Fiction zu lesen bedeutet, dieses Entbergen mitzuerleben und das Entborgene zu betrachten – und dabei daran andere Aspekte zu entdecken, als es die schreibende Person tat.

Ein KI-Werk kann formal komplex, stilistisch perfekt, sogar berührend erscheinen – aber es trägt keine Existenztiefe und keine Vieldimensionalität. Die Tiefe fehlt nicht in der Darstellung, sondern in der Herkunft. Es hat keine Geschichte, die durchlebt wurde. Die Dimensionalität fehlt in der Ansprechbarkeit des Werks, weil es uns auf dieselbe Weise nicht berühren kann, wie ein Computer uns nicht berühren kann. Und der Mensch, der nicht abgestumpft oder eingelullt ist, spürt das.

Wirkung: Resonanzraum vs. Reiz-Reaktion

Das imaginale Werk öffnet einen Raum im lesenden Menschen, im Hörer, Betrachter – einen Zwischenraum, der mehr ist als Information. Es ruft Erinnerungen wach, löst Fragen aus, lässt das Unsichtbare durchscheinen. Es wirkt nicht nur auf uns, sondern mit uns.

Das KI-Werk löst eine Reaktionen aus, aber keine Resonanz. Es kann faszinieren, unterhalten, sogar imitieren, was berührt – aber es antwortet nicht auf eine Wirklichkeit, und daher ruft es auch keine wirkliche Antwort hervor. Wieder, der lauschende Mensch merkt das. Ich glaube, wir haben einen natürlichen Instinkt, der uns das Unnatürliche, Hohle meldet – selbst wenn wir ganz natürlich dem scheinbar antwortenden Anderen Bewusstsein zusprechen. (Diesbezüglich ist KI ein Novum für die Menschheit, und eine der großen Fallen, in die sie treten kann, ist, ihr Bewusstsein zuzusprechen.) Oder anders gesagt: Wir sind – zumindest im unverbauten Zustand – Resonanzwesen. Wenn keine Resonanz ausgelöst wird, antworten wir mit Desinteresse.

Was also tun?

Und hier wage ich zu sagen: Und Menschen, die die Antwort zwar wissen, sie aber nicht hören oder nicht auf sie hören, entwickeln Symptome. Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depression. Was diese Symptome sagen: »Schau, hier ist keine Resonanz. Such dir resonante Begegnungen!«

Vielleicht ist dies das einzige und zugleich wieder menschlichste Kriterium im Umgang mit KI. Setzen wir sie dort ein, wo ohnehin keine Resonanz angebracht ist, und lassen wir sie weg, wo Resonanz das Kriterium ist.

Was das Imaginale hervorbringt, ist kein „Output“, sondern eine Antwort. Und diese Antwort trägt Spuren von Welt, Innenraum und Durchgang, von Mensch und Zeit, vom Wachsen und Werden, Leben und Tod.

Für die an einem Werk Partizipierenden (das Imaginale kann nicht konsumiert werden, weil es partizipativ ist) ist es nicht das Werk an sich, das den Unterschied macht, sondern das Antworten auf ein Werk. Für die imaginal Kreierenden ist es der Weg an sich, der den ganzen Unterschied macht. Das Werk ist ohnehin nur ein Nebenprodukt des Wegs.

Darum: Ein imaginales Werk wirkt, weil es anspricht, offenbart, antwortet, weiterführt.
Ein KI-Werk gefällt, weil es trifft, was erwartet wird.

Aber nur ein imaginales Werk berührt das, wovon wir noch nicht wissen, dass wir es suchen.

– Lucas Martainn

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Antwort statt Plot