Imaginal Fiction und Fantasy

Die kleine Reihe »Imaginal Fiction und …« ist eine betrachtende, nicht bewertende Gegenüberstellung von Imaginal Fiction und verwandten Genres. Die Gegenüberstellung hilft mir, die Eigenheiten von Imaginal Fiction klarer zu erfassen. Ich möchte damit jedoch nicht festlegen, dass Imaginal Fiction ein Genre ist. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich betrachte Imaginal Fiction in erster Linie als Erfahrung und darüber hinaus als Ort der Begegnung.

Was bedeutet »imaginal«?

Imaginal ist nicht dasselbe wie imaginär oder fantasievoll.

Imaginal bezeichnet einen Bewusstseinsraum zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

Es ist ein Raum, in dem Bilder nicht erfunden werden, sondern entstehen, weil sie angesprochen werden und ansprechen.

Dieser Raum ist real, aber nicht physisch. Er ist wahrnehmbar, aber nicht materiell.

Man kann ihn betreten – nicht mit den Augen, sondern mit einer bestimmten Haltung: lauschen statt denken, schauen statt erklären. Das Auge des Geistes. Kontemplativ. Das Auge der Träume.

Das Imaginale ist ein Beziehungsraum: zwischen Mensch und Welt, zwischen Bild und Sinn, zwischen Innen und Außen.

Was ist Imaginal Fiction?

Imaginal Fiction ist Literatur, die sich aus diesem imaginalen Raum speist – und diesen Raum beim Lesen öffnet.

Sie ist:

Erfahrungsbasiert – Sie löst eine innere Bewegung aus und macht sie spürbar.

Bildhaft – Nicht metaphorisch, nicht symbolisch. Ihre Bilder sind nicht Dekoration, sondern Träger von Wirklichkeit.

Transformativ – Veränderung geschieht aus einer anderen, erweiterten, umfassenderen, dialogischen Begegnung mit der Realität.

Spiralförmig – Sie führt weder linear zu einem Ziel noch in eine andere Welt, sondern ins Hier, in Tiefenschichten von Wirklichkeit, in neue Möglichkeiten des Antwortens.

Sprachbewusst – Nicht ornamental, sondern klar, poetisch, durchlässig. Ihre Sprache öffnet lässt Raum, statt zu fixieren. Zugleich verankert die Sprache verankert, da Imaginal Fiction klar diesseitig ist. (Man könnte sagen: eine geerdete Poesie.) Deshalb arbeitet sie mit dem Konkreten, mit »Thisness«. Sprache selbst wird zu einer »Figur«, die ihre eigene Wandlung durchläuft. Sprache ist Ausdruck von Weltbeziehung, nicht nur Information und Kommunikation.

Immanent-mystisch – Imaginal Fiction zeigt das Heilige nicht jenseits, sondern im Hiersein. Das Mystische ist jedoch nicht nur »innen« und »subjektiv«.

Eine Einladung zur Teilnahme – LeserInnen sind nicht KonsumentInnen, sondern Zeugen eines persönlichen Wegs.

Abgrenzung zu Fantasy

Fantasy entfernt sich von der Welt.
Imaginal Fiction vertieft sich in die Welt.

Fantasy nutzt Bekanntes neu (Drachen, Zauber etc.)
Imaginal Fiction erschafft das Neue im Dialog mit dem imaginalen Raum.

Fantasy benutzt Bilder symbolisch oder dekorativ.
Imaginal Fiction benutzt Bilder offenbarend, existenziell.

Fantasy lesen ist eskapistisch, unterhaltend.
Imaginal Fiction ist resonant, verwandelnd.

Fantasy verläuft in der Struktur der klassischen Heldenreise.
Imaginal Fiction durchläuft eine spiralförmige Wandlung und Transformation.

Fantasy entwirft eigene Welten.
Imaginal Fiction zeigt verlorene/verborgene Tiefenschichten dieser Welt.

Das Zeitverständnis in Fantasy ist linear, zielgerichtet.
Das Zeitverständnis in Imaginal Fiction ist spiralförmig, vertikal und horizontal, geschichtet.

Fantasie & Imagination

Fantasie nimmt uns aus der Realität heraus. Imagination bringt uns in die Realität hinein.

Fantasie ordnet das, was wir schon wissen, neu. Imagination ist ein Raum, in dem Neues entsteht bzw. Uraltes in der Begegnung mit dem Jetzt sich neu zeigen kann.

– Lucas Martainn

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