Die Würde der ungeteilten Aufmerksamkeit

Ein Gesicht.
Ein nackter Baum in der Kälte.
Ein Satz, der noch nicht gesagt ist.

In mir hört alles auf, nebenbei noch anderes zu tun. Kein innerer Kommentar, kein Griff nach einem Gerät, kein inneres Weiterscrollen. Nur dieses eine Gegenüber. Nur dieser eine Augenblick, der sich nicht beeilt.

In solchen Momenten zeigt sich etwas, das ich Würde nennen möchte.

Würde heißt für mich nicht Größe, Erfolg oder moralische Lauterkeit.

Würde heißt: Etwas oder jemand kann bei mir vollständig sein. Es kann so ankommen, wie es ist, ohne dass ich es sofort vergleiche, benutze, verbessere.

Ungeteilte Aufmerksamkeit erlebe ich als Praxis dieses Würdigens. Ich diene für einen Moment nur dieser einen Beziehung. Blick und Gegenüber. Atem und Körper. Frage und Antwort. Bild und Resonanz.

Im Hintergrund wirkt etwas sehr Einfaches. Was ich ungeteilt sehe, kann sein und sich wandeln. Was ich in mir ungeteilt anschaue – eine Erinnerung, eine Angst, eine Freude, eine Story-Idee –, sucht sich in mir ein neues Zuhause. Es sinkt tiefer, vernetzt sich mit anderem, wird Teil meiner Geschichte, statt mich im Hintergrund zu steuern. Würdigen heißt dann auch, das, was ich lieber anders gemacht hätte, nicht aus dem Bild zu drängen, sondern in mein Menschsein aufzunehmen. Würdigen ist eine Integrationsbewegung.

Die Würde der ungeteilten Aufmerksamkeit erlebe ich nicht nur Personen gegenüber. Sie gilt auch gegenüber Bewegungen, Räumen, Fragen, Geschichten.

Nicht in spektakulären Bildern jenseits der Welt zeigt sich mir das Imaginale, sondern in der Tiefe einer einzigen wahrgenommenen Geste – und mit Geste meine ich alles, was mich anspricht. Ein Geräusch. Das Licht auf den Feldern. Eine Welle.
Das Imaginale braucht keine Fülle an Eindrücken, sondern ein Sich-Einlassen. Ein Blatt im Wind kann zu einer imaginalen Szene werden, wenn meine Aufmerksamkeit nicht flieht. Ein ungesagter Satz im Gesicht eines Menschen kann zu einer Tür werden, wenn ich ihn nicht innerlich wegklicke. Wenn ich mich in etwas vertiefe, kommt es mir entgegen.

Ich möchte das nochmals sagen: Wenn ich mich in etwas vertiefe, kommt es mir entgegen.

Ungeteilte Aufmerksamkeit ist ein Raum, der sich öffnet, sobald ich aufhöre, mich gleichzeitig an vielen Türen aufzuhalten. In diesem Raum beginnt die Welt zu antworten. Nicht als Vision, die mich überwältigt, sondern als leiser Zuwachs an Sinn, gerade darum, weil es meine Sinne ansprechen kann. Ein Zusammenspiel wird spürbar, das vorher in der Zersplitterung unterging.

Gerade deshalb erlebe ich die aktuelle Kultur als schwierig für diesen Raum. Bildschirme und die darauf als »sozial« getarnten Spinnennetzwerke sind darauf angelegt uns einzufangen und unsere Aufmerksamkeit zu fragmentieren. Sie lösen uns auf, wickeln unsere Reste ein, funktionalisieren und verformen uns dabei. Jede Oberfläche ist zugleich Schaufenster, Marktplatz, Sirene. Weil ein ganzer Sektor davon lebt, dass Aufmerksamkeit nicht bleibt, sondern springt.

Diese Fragmentierung spüre ich als eine Verarmung von Würde.

Wenn mir jemand etwas erzählt und ich gleichzeitig Nachrichten prüfe, wird nicht nur die andere Person entwürdigt, sondern auch meine eigene Wahrnehmung, und damit ich selbst. Ich erlaube mir nicht mehr, vollständig anwesend zu sein. Wenn ich nicht vollständig anwesend bin, bin ich nicht vollständig. Meine Erfahrung wird zu einem Nebeneinander von Splittern, die keine Tiefe mehr entfalten können. Ich bin keine Person mehr. Ich bin dann keine Person mehr.

Dasselbe kenne ich im Inneren. Wenn ich in stillen Momenten automatisiert nach einem Bildschirm greife, nehme ich mir damit die Würde meiner eigenen Innerlichkeit. Ich komme mir nicht entgegen. Ich gebe mir nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit, die nötig wäre, damit sich etwas in mir zusammensetzen und antworten kann. So können auch keine Geschichten entstehen.

Die Würde der ungeteilten Aufmerksamkeit wird für mich daher auch zu einer Form von Selbstschutz – und zu einer Form, meine Geschichten zu schützen. Genauso wie meine Mitmenschen.

Jetzt, für diese Minuten, im Schreiben oft für Stunden, Tage, gehört meine Aufmerksamkeit nur einer Sache. Das sieht von außen oft unspektakulär aus. Gut so. Denn das Spektakel bietet mir nichts als eine kurze Ablenkung.

In meinem inneren Vokabular hat sich der Ausdruck »Würde der ungeteilten Aufmerksamkeit« zuerst im Kontext der Begegnung mit anderen Menschen gezeigt. Jemandem wirklich zuzuwenden, ohne nach links und rechts zu schauen, wurde für mich zu einem Ausdruck dieser Würde. Nach und nach hat sich derselbe Ausdruck auf meine Beziehung zur Welt und zu meinem Inneren ausgeweitet.

Die Welt muss für mich nicht mehr sein als das, was jetzt gerade da ist, um imaginal zu werden.

Sie braucht nur meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nicht als distanzierter Zeuge, wie in manchen Meditationsformen, sondern als erster Schritt der Partizipation.

– Lucas Martainn

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Science Fiction und Imaginal Fiction